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AutorenbildBarbara Brüning

Wann Medikamente bei Depression schaden


Depression? - Da muss man doch erst mal Medikamente nehmen. Das ist doch ein Defizit im Gehirn, da kann man sonst nichts machen - das höre ich immer wieder, wenn ich sage, dass ich auch Menschen mit leichten und mittelschweren Depressionen berate - und nicht sofort empfehle Medikamente zu nehmen. - Und ich muss mir dafür auch schon mal anhören, unverantwortlich oder schlicht unwissend zu sein.

In dem Artikel "Klinische Diagnosen als soziale Konstruktion" in der Fachzeitschrift "Psychotherapie-Wissenschaft "belegt Volkmar Aderhold sehr klar, warum die scheinbar objektiven Diagnosen verbunden mit der Annahme Depression sei eine Krankheit des Gehirns, negative Folgen für die Betroffenen haben können. Die Argumente, die sich mit Depression befassen, habe ich euch hier mal zusammengefasst:

Gibt es eine objektive Diagnose?

Wie wird definiert, wer psychisch krank ist? Diagnosen von psychischen Krankheiten sind abhängig vom Beobachter und der Situation und keineswegs objektiv: Besonders deutlich zeigt sich das bei der Diagnose der Schizophrenie - was den Laien verwundert, da er meist annimmt, die Symptome der Schizophrenie seien so heftig, dass sie eindeutig identifiziert werden kann. Aber - um nur einen Aspekt herauszugreifen: Es gibt zwei große Regelwerke zur Beurteilung von Krankheiten, zu denen auch die psychischen Krankheiten zählen. Das ist DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; englisch für „diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) und ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) führt psychische und Verhaltensstörungen im Kapitel V auf). Laut DSM müssen die Symptome der Schizophrenie über sechs Monate hinweg bestehen, um Schizophrenie zu diagnostizieren, laut ICD-10 jedoch nur vier Wochen. "Über 70 Prozent der Menschen, die in einem System so definiert werden, würden in einem anderen Diagnosesystem diese Diagnose nicht erhalten", schreibt Aderhold. Für die Betroffenen ist jedoch von lebensgeschichtlich entscheidender Bedeutung, ob sie diese Diagnose erhalten oder nicht.

Die Absicht bei der Aufstellung der Diagnosesysteme war, Objektivität zu erreichen - stattdessen wird nun die Beobachterabhängigkeit verschleiert. Allein die Tatsache, dass es zwei Regelsysteme gibt, die nebeneinander existieren, muss ein Dorn im Auge aller Verfechter der "objektiven" Kriterien sein. Aber es ist bislang keinem Expertengremium gelungen, die beiden Systeme DSM und ICD-10 in einen einzigen, allgemeingültigen Katalog von Symptomen, die für die Diagnose einer psychischen Krankheit hinreichend und notwendig sind, zu überführen.

Anders als vielfach angenommen, ist auch eine Diagnose wie "depressiv" keine objektive Tatsache sondern gilt für einen bestimmten Beobachter (Arzt, Therapeuten) in einem bestimmten Kontext. Ein anderer Arzt kann zu einem anderen Ergebnis kommen.

Wozu braucht man eine Diagnose?

"Im besten Falle führt der diagnostische Prozess zum Gefühl des Verstandenwerdens und Sich-selbst-Verstehens, im schlechtesten Falle zum Gefühl der Stigmatisierung und Diskriminierung", schreibt Aderhold. Als psychisch krank bezeichnete Menschen werden in der Folge verdinglichter wahrgenommen und behandelt, das heißt es wird nicht mehr nachgefragt, was in ihrer persönlichen Lebenssituation zu den Symptomen geführt haben könnte und was noch hilfreich sein könnte um mit dieser Situation umzugehen. Die Menschen mit dieser Diagnose werden vielmehr alle in die eine Schublade einsortiert unter der Annahme, es sei eine Fehlfunktion in ihrem Gehirn für die Depression verantwortlich und deshalb könnten nur Medikamente helfen. Aber helfen sie wirklich?

Zur Sache: Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten bei mittelschwerer Depression

Bei mittelschweren Depression konnte gezeigt werden, dass Medikamente kaum wirksamer sind als Psychotherapie. Der Wert, der dies besagt, heißt NNT (Number needed to treat) und zeigt an, wieviele Menschen (für eine bestimmte Zeit) behandelt werden müssen, damit einer von ihnen die beabsichtigte Heilung zeigt. Dieser Wert liegt für mittelschwere Depression bei 10. Das bedeutet, dass von 10 Personen einer auf das Medikament positiv reagiert.

Eine andere Studie, bei der Psychotherapie mit Pharmakotherapie verglichen wurde, liegt der NNT sogar nur bei 14 und ist damit klinisch nicht relevant. Kurz - es wirkt bei mittelschweren Depressionen praktisch nicht.

Die Verordnung von Antidepressiva hat jedoch seit 1996 um 680 Prozent zugenommen. Allein seit 2009 hat sie sich verdoppelt. - Deshalb muss man davon ausgehen, dass auch natürliche Reaktionen auf Lebenserfahrungen mit Medikamenten behandelt werden - schon allein weil die schweren psychischen Erkrankungen nicht in demselben Maß zugenommen haben.

Außerdem gaben 65 Prozent der antidepressiv behandelten Menschen an, zuvor ein oder mehrere belastende Ereignisse oder Umstände erlebt zu haben. (Beziehungsprobleme, Lebensübergänge, Verluste ...) Leider mussten auch die Krankenkassen in Deutschland sehen, dass die Zeit der Arbeitsunfähigkeit nach Pharmakotherapie nicht kürzer ist, als ohne.

Aber ist nicht ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn Ursache von Depression??

Die Annahme, dass ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn die Ursache für die Depression ist, ließ sich bis heute nicht wissenschaftlich belegen. Trotzdem glauben viele daran.

Auch wurden bis heute keine brauchbaren neurobiologischen Erklärungen für Depressionen gefunden. Die genetischen und neurobiologischen Befunde auf der einen und psychischen Phänomene auf der anderen Seite sind voneinander relativ unabhängig.

Nachteile der Behandlung von Depression als "objektive" Krankheit des Gehirns

Aber anstatt die Betroffenen zu entlasten - im Sinne von: "ich bin nicht Schuld an meiner Depression und ich kann nichts dafür, weil Depression genau so eine Krankheit ist wie zum Beispiel Diabetes", führt die sogenannte Biologisierung eher zu einer zusätzlichen Belastung: sowohl die Betroffenen selbst als auch ihre Umgebung bekommt das Gefühl, dass da etwas vor sich geht, was man nicht verstehen und nicht beeinflussen kann. "Hirnkranke erfahren stärkere soziale Ablehnung als Menschen, die durch negative Lebenserfahrungen in psychische Krisen geraten sind. Sie scheinen uns fremder, in ihren Handlungen unverständlicher und unkontrollierbarer - und sich selbst ebenfalls", schreibt Aderhold.

Darüber hinaus sind die Nebenwirkungen der Medikamente nicht zu verachten. Und dass man Medikamente einnehmen muss, ergibt sich ja direkt aus der Ansicht, Depression sei eine Gehirnkrankheit: 62 % berichten von sexuellen Schwierigkeiten, 60 % von emotionaler Betäubung. Das Gefühl nicht man selbst zu sein erlebten 52 % und eine Abnahme der positiven Gefühle 42 %. Suiziadalität und Entzusgserscheinunge traten bei 55 % der Patienten auf. Damit gehören die Nebenwirkungen der Medikamente zu genau den Symptomen, die sie eigentlich bekämpfen sollen!

Und sie stehen einem Gelingen von Psychotherapie entgegen! Denn wenn die Nebenwirkung des Medikaments Ursache für die negativen Gefühle und suizidalen Gedanken sind, dann kann die Therapie auch nicht oder nur in geringem Umfang dagegen ankommen.

Menschen neigen dazu, sich so zu verhalten, wie andere es von ihnen erwarten

Ein anderes grundsätzliches Problem der klinischen Diagnosen ist, dass sie Zuschreibungen sind. Das heißt einem Menschen wird mitgeteilt, dass er nun z.B. eine Depression habe. Menschen, die so etwas von einem Arzt oder Psychotherapeuten erfahren, neigen dazu, sich selbst von nun an als jemand zu sehen, der diese Krankheit hat und sich dementsprechend zu verhalten.

Damit verringern sie gleichzeitig ihre eigene Hoffnung auf Hilfe durch Gespräche, die Zeit oder durch Therapie. Denn diese können ja nicht auf das chemische Gleichgewicht im Gehirn einwirken. Positive Erwartungen und Hoffung sind für den Erfolg von Therapien jedoch entscheidend. Auch das ist durch Studien belegt.

Dies ist nur ein Argumentationsstrang im Artikel von Aderhold, den ihr hier auch ganz nachlesen könnt. Ich möchte damit auch nicht davon abraten, bei schweren Depressionen Medikamente zu nehmen. Ich möchte auch nicht all die Psychotherapeuten schlecht machen, die bewusst und vorsichtig Antidepressiva einsetzen um eine Gesprächstherapie zu unterstützen oder erst möglich zu machen. Auf keinen Fall sollten bestehende Medikamentenverordnungen ohne fachliche Begleitung einfach abgesetzt werden. Ein vertrauensvolles Verhältnis zum Therapeuten ist die Voraussetzung für eine Besserung des Zustands. Allerdings ist es sinnvoll im Kopf zu behalten, dass es in der Regel Lebenskrisen und äußere Umstände sind, die die Depression auslösen - und nicht biologische Gegebenheiten. Dementsprechend ist es hilfreich zu überlegen, wie man mit der Lebenssituation umgehen kann, um depressive Phasen zu überwinden. Medikamente bekämpfen die Auswirkungen, nicht die Ursachen.

Den Orignial-Artikel könnt ihr übrigens hier nachlesen

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